Erinnerungen an Udo Riechmann

Ich kannte Udo seit 1967 aus der gemeinsamen Zeit mit Hans-Jürgen Krahl. Unvergessen ist mir sein Auftritt  am 9. Juni 1967 in Hannover, wo er aus einer Menge von mehr als 5000 Menschen heraus gegen Jürgen Habermas aufbegehrte, als dieser den Begriff „Linksfaschismus“ auf die Studentenbewegung münzte.

Das war so: Unmittelbar nach dem Begräbnis von Benno Ohnesorg kommen in  einer Sporthalle über 5000 Menschen zum Kongress Hochschule und Demokratie – Bedingungen und Organisation des Widerstandes zusammen, auch Prominente wie Helmut Gollwitzer, Hartmut von Hentig, Wolfgang Abendroth, Peter Brückner, Erich Kuby, Jürgen Habermas. Fast fünf Stunden wird diskutiert, was in den nächsten Wochen in Berlin und in der BRD zu tun sei. Habermas bescheinigt den Aktionen zwar eine „temporäre Kontrollfunktion“ in einer Demokratie ohne wirkliche Opposition, jedoch keine langfristige Perspektive, da er den Studierenden nicht zutraut, das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis auszuhalten, und befürchtet baldige Indifferenz, politische Regression oder gar Irrationalismus. Hans-Jürgen Krahl und Rudi Dutschke widersprechen ihm heftig. Dutschke entgegnet: „Professor Habermas, ihr begriffsloser Objektivismus erschlägt das zu emanzipierende Subjekt!“ Er verteidigt die Methode der Provokation. Die Studenten sollten die „etablierten Spielregeln dieser unvernünftigen Demokratie“ bewusst durchbrechen. Dutschke schlug vor, eine Demonstration gegen das Demonstrationsverbot in Berlin anzumelden und, sollte sie nicht genehmigt werden, überall in der BRD Aktionszentren zu bilden, um „Kampfmaßnahmen“ zu beraten. Auf Nachfrage erklärt Rudi, unter Kampfmaßnahmen verstehe er „passive Protest-Sitzstreik-Aktionen“. Kurz danach reist Dutschke ab. Habermas sitzt schon im Auto, es ist um Mitternacht, als in ihm die Befürchtung aufkommt, da meint einer mehr als Sitzstreik, wenn er von Kampfmaßnahmen spricht und eilt zurück in die Halle. Am Mikrophon drückt er sein Erstaunen aus, dass Dutschke nur  „Demonstration mit gewaltlosen Mitteln“ vorgeschlagen habe und sagt: „Ich bin der Meinung, er hat eine voluntaristische Ideologie hier entwickelt, die man im Jahr 1848 utopischen Sozialismus genannt hat und die man unter heutigen Umständen – jedenfalls, ich glaube, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen – ‚linken Faschismus‘ nennen muss.“ Buhrufe, Beifall und Pfiffe mischen sich. Und inmitten dieser erregten Menschenmenge ertönt laut eine tiefe Stimme mit einem donnernden Ausruf. Das war Udo. Ich weiß nicht mehr, was er gerufen hat, „Das nehmen Sie sofort zurück!“ oder „Das darf doch nicht wahr sein!“Oder was auch immer.  Unvergessen ist mir jedenfalls, wie diese Donnerstimme der Empörung, ohne ein Mikrophon zu benötigen, in einer Menge von mehr als 5000 Menschen für alle klar hörbar war.

In Frankfurt gehörte ich zur Krahl-Riechmann-Fraktion, allerdings nicht zur politischen im SDS, sondern zur Trinkerfraktion. Gemeinsam mit den Polizeireportern Oskar Link und Axel Wimmershof bestritt ich ab März 1968 als 21-Jähriger und damit Jüngster der sich gerade entwickelnden zweiten FR-Generation als Uni- und Demo-Korrespondent die Berichterstattung über die Studentenbewegung. Es war in der „Schoppestubb“ in der Hochstraße, dem abendlichen Hauptquartiers des harten Kneipengänger-Kerns des SDS, wo Hans-Jürgen Krahl im Beisein von Udo mich mit dieser Forderung konfrontierte: „Wenn wir nicht so viel demonstrieren würden, würdest du doch nicht so viel Zeilenhonorar bei der FR verdienen, also wäre es doch nur gerecht wenn du die Hälfte an den SDS abführst.“ Wir  verhandelten und das Ergebnis war, dass ich ein Mal in der Woche eine große Tischrunde  Bier, Schnaps und Hamburger ausgab. Und dies alles im Rücken von Kommissar Erich Panitz vom 14 Kommissariat, dem es nicht genügte, draußen immer vornedran zu sein, wenn sich Studenten zusammenrotteten, sondern der auch des Abends gerne mit offenen Ohren demonstrativ am Tresen saß.

In den weiteren Jahrzehnten – von 1970 bis 1976 war ich in Bremen – hatte ich keinen regelmäßigen Kontakt zu Udo, aber sporadisch sind wir uns doch immer mal wieder begegnet. Intensiver zuletzt  anlässlich des 70. Geburtstages von Krahl, zu dem Udo ins Restaurant  „Wiesengrund“´(Im Weingarten in Bockenheim) eingeladen hatte. Es war ein intensiver und langer Abend der Erinnerungen. Aber Udo wäre nicht Udo gewesen, wenn er es bei einem Erinnerungstreffen belassen hätte. Er wollte von diesem Abend aus eine Gesprächsreihe zur Renaissance der Kritischen Theorie mit Blick heute erforderliche Bewegung starten. Es kam auch zu einem ersten Treffen. Nur wenige kamen, aber wir konnten Udo noch mal mit seinem missionarischen Enthusiasmus erleben. Bei seinem Impulsvortrag strahlte er eine Stimmung aus, die zwischen zornige  Resignation und dagegen aufbegehrendem Trotz changierte. Seine inhaltlichen Ausführungen waren, wie es seine Art war, weit ausholend und weitgreifend und er verstieg sich in Zusammenhänge, die nicht nur für mich hier und da nur schwer nachvollziehen waren. Aber beeindruckt war ich wieder mal von seiner ungebrochenen Empathie für die Notwendigkeit rebellierender Menschenbewegung an sich – „trotz alledem“.

So maßlos und ausschweifend Udo auch  mit seinen Gedankengängen wirken mochte, die er an den Mann und an die Frau brachte oder bringen wollte, so war ihm doch nach meinem Erleben auch persönliche Bescheidenheit eigen. So gerne er auch mich in der Sache überzeugen oder in seiner Suche mitnehmen wollte, so drängte er sich doch nicht als Person der anderen Person auf. Wenn wir hier und da in der Sache auch laut miteinander und gegeneinander diskutiert haben, so konnte das doch unser Wohlwollen füreinander nicht beeinträchtigen, das wir uns mit scheuem Anlächeln bestätigten. Man fragt sich ja mit den Jahren, welche Personen nachhaltige Bedeutung im Leben gehabt haben. Neben denen aus dem Mainstream meiner politischen und persönlichen Sozialisation gehört für mich dazu auch der auf seine Art charismatische Udo mit seinem knorzigen Eigensinn und seinem nicht einfachen Leben. Er hat einen festen Platz in meiner Erinnerung, weniger in der rationalen, mehr in der emotionalen Gehirnhälfte. Oder anders: In der meines Herzens.

Anmerkung:
Immerhin: Habermas ist durch Udos donnernden Zwischenruf und die anderen Reaktionen etwas verunsichert und formuliert um: „Ich hätte gern geklärt, ob er nun willentlich die manifeste Gewalt herausgefordert hat nach den kalkulierten Mechanismen, die in diese Gewalt eingebaut sind, und zwar so, daß er das Risiko von Menschenverletzung, um mich vorsichtig auszudrücken, absichtlich einschließt oder nicht.“

Habermas setzte also nicht die von Dutschke vorgeschlagenen Aktionen mit Faschismus gleich, sondern bezog sich auf deren theoretische Begründung, die den gesellschaftlichen Wandel nur vom bewussten Willen der Revolutionäre erwartete. Ebenso hatte Marx den utopischen Sozialismus dafür kritisiert, die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft nicht zu berücksichtigen. Habermas teilte also die Annahme Dutschkes, dass sich in Ohnesorgs Erschießung und den bisherigen staatlichen Reaktionen darauf Gewaltstrukturen der gesellschaftlichen Verhältnisse gezeigt hätten. Er fragte aber, ob durch bewusste Provokation solcher Gewalt weitere Opfer in Kauf genommen werden sollten. Er fürchtete, die gewollte Provokation des bürgerlichen Staates mit illegalen Aktionen könne den Faschismus erst erzeugen, der in den Gesellschaftsstrukturen angelegt sei, ohne dass die veränderungsbereiten Kräfte eine Chance zu einer erfolgreichen Revolution hatten. Dahinter stand die marxistische Faschismustheorie der „Kritischen Theorie“, die Faschismus als Folge und latente Bedrohung des scheinbar liberalen Kapitalismus beschrieben hatte.

Dutschke hörte diese Antwort am Folgetag auf einem Tonband und schrieb daraufhin in sein Tagebuch:[ „Der Vorwurf reduzierte sich darauf, daß ich, der ich durch Aktionen die sublime Gewalt zwinge, manifest zu werden, bewußt Studenten ‚verheizen‘ wolle… H[abermas] will nicht begreifen, dass allein sorgfältige Aktionen Tote, sowohl f[ür] d[ie] Gegenwart als auch noch mehr f[ür] d[ie] Zukunft ‚vermeiden‘ können. Organisierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz, nicht ‚organisierte Abwiegelei‘ à la H[abermas]. Der Vorwurf d[er] ‚voluntaristischen Ideologie‘ ehrt mich.“

Dutschke  sah wie viele Studenten die staatliche Gewaltenteilung nach Ohnesorgs Erschießung als nicht funktionsfähig an: Die Opfer würden zu den Tätern gestempelt, der tatsächliche Täter bleibe in Freiheit, die politisch Verantwortlichen blieben in ihren Ämtern. Nach jahrelangen Erfahrungen mit angemeldeten Demonstrationen wollte er die für ihn strukturelle Gewalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch „organisierte Irregularität“ aufdecken. Die Reaktionen des Staates auf nichtangemeldete und neuartige Aktionsformen sollten der Bevölkerung die herrschenden Unterdrückungsmechanismen bewusst machen, von denen er überzeugt war.

Schon in einem Aufsatz „Hochschulreform und Protestbewegung“, dann auch in einem Brief an Erich Fried vom 26. Juli 1967 nahm Habermas seinen Vorwurf zurück: „Ich habe in Hannover vom ‚linken Faschismus‘ in einem klar hypothetischen Zusammenhang gesprochen.“

In einem Brief vom 13. Mai 1968 an C. Grossner schrieb er zudem:
„Erstens habe ich damals nicht gesehen, dass die neuen Formen der Provokation ein sinnvolles, legitimes und sogar notwendiges Mittel sind, um Diskussionen dort, wo sie verweigert werden, zu erzwingen.
Zweitens hatte ich damals Angst vor den irrationalistischen Implikationen eines Vorgehens, das unter dem Topos ‚die Spielregeln brechen‘ eingeführt wurde. Diese Befürchtungen hege ich auch heute noch, daher hat sich die Intention meiner damaligen Bemerkung nicht geändert. Freilich würde ich […] heute […] das Etikett des linken Faschismus vermeiden, und zwar nicht nur, weil dieses Etikett das grobe Missverständnis einer Identifizierung des SDS mit den rechten Studenten Anfang der dreißiger Jahre hervorgerufen hat, sondern weil ich inzwischen überhaupt unsicher geworden bin, ob das eigentliche Neue an den gegenwärtigen Revolten durch geistesgeschichtliche Parallelen getroffen werden kann.
Drittens halte ich nach wie vor Gewaltanwendung in der gegenwärtigen Situation nicht für ein vertretbares Mittel des politischen Kampfes. In einer Lage hingegen, […] deren Unerträglichkeit keineswegs allgemein ins Bewußtsein getreten ist, […] müssen sich die handelnden Subjekte […] inhumane Folgen ihres Handelns moralisch zurechnen lassen.“


Der Text wurde von Wolf Gunter Brügmann nach der Beerdigung von Udo Riechmann im HeckMeck in Bockenheim vorgetragen und den DenkNomaden freundlicherweise zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Wolf Gunter Brügmann war viele Jahre Redakteur der Frankfurter Rundschau.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert