Thomas Blanke
Freistaat Bockenheim – Metamorphosen eines Stadtteils.
Eine Hommage.
[Ein literarisches Dokument aus dem Jahr 1989]
Bockenheim, logisch. Nicht Griesheim, Schwanheim, Ginnheim, Eschersheim, Bornheim oder irgendein sonstiges -heim, -end oder gar -hausen, sondern ganz klar Bockenheim. Bockenheim und nix wie Bockenheim. Erklären läßt sich das nicht. Man muß das ganz einfach gesehen haben. Und erlebt, wie’s gewesen ist, früher, als es ihn noch gab. Den Freistaat, um den sie jetzt Geschenkpapier gewickelt haben und bunte Schleifehen drum, so daß man zwar nichts mehr erkennt, aber ahnt, daß sich was Kostbares drunter verbirgt. Ich versuch’s mal: auszupacken, vorsichtig, ganz vorsichtig…
Annäherungen I: Die Warte, wie sie war
Wer sich Bockenheim nähert, kann das eigentlich nur auf eine Weise:
Egal ob er vom Bahnhof oder der Hauptwache kommt, er muß über die Bockenheimer Warte, die schon im Mittelalter die tapferen Einwohner vor den wiederholten Überfällen der Frankfurter schützte, und zwar so erfolgreich, daß Bockenheim im Unterschied zur eigentlichen Metropole bis heute im Wesentlichen kulturell erhalten blieb. Der nachhaltige Erfolg dieser Verfremdungsabwehr zeigt sich schon darin, daß ganz Bockenheim keine einzige Äppelwoikneipe aufweist. Die Eschersheimer haben dies durch die Errichtung eines fast baugleichen Wachturms nachzumachen versucht, ohne daß sie allerdings wegen der vielfältigen Umgehungsmöglichkeiten je eine vergleichbare Selbständigkeit bewahren konnten.
Die Warte selbst ist, ungeachtet aller Restaurationsversuche, kein Kunststück. Zudem steht sie, stand sie jedenfalls, noch ziemlich unglücklich ‘rum, was die Umgebung angeht: Auf einer jetzt von der U-Bahn unterwühlten Verkehrsinsel markierte sie eine kioskbewehrte Straßenbahnhaltestelle, weiträumig flankiert von betonstarren universitären Zweckbauten, den Fabriklamellen des Straßenbahndepots und postmodern nachgerüsteten Eckhäusern aus früheren Zeiten. Das Ganze fügt sich zu einer derart unorganischen, strukturlosen Leerfläche, daß zu Recht noch niemand auf die Idee gekommen ist, dieses Ensemble als Platz zu bezeichnen. Selbst die notorischen Tauben hält das Maul Bockenheims fern. Die Warte ist nicht der Ort, Stadtatmosphäre zu simulieren.
Unachtsam drängelt die Menschenmenge in die zwei Hauptrichtungen auseinander. Kaum jemand hat die Warte je gesehen. So sie können, meiden die Bockenheimer das Universitätsgelände und stürzen sich gleich in jene enge Gasse, die die Pulsader des Gemeinwesens bildet: »die Leipziger«.
Annäherungen II: Bockenheim in Bockenheim
Aber bevor wir uns darauf einlassen, sei dem modernen Reisenden geraten, für einen Moment an der dieser Tage zum Platz aufpolierten und mit Marktbuden verstellten Warte innezuhalten und einen Blick hinter das Trambahndepot zu werfen, welches derzeit als Theaterersatz dient – seit jener herostratischen Heldentat, die zu der unter ästhetischen Gesichtspunkten keineswegs bedauerlichen Vernichtung der Oper führte. Am gegenüberliegenden Ende der Freifläche, die sich dort öffnet, seit die schützende Mauerumzäunung eingerissen ist, stehen zwei Eckhäuser, die da nicht hingehören. Als seien sie aus dem Herzen Bockenheims, dem Geviert um den Hessenplatz, herausgerissen und dorthin transplantiert, beäugen sich sinnlos die Gebäude, die die sagenumwobenen Kneipen »Hesseneck« und »Hessischer Hof« bergen.
Leichte Schwindelgefühle, noch mal hinschauen, nein, kein Trug: Das sind die Häuser, die Kneipen von der Traudel und Toni. Aber warum da? Stadtmuseum in der Stadt, im Verhältnis 1: 1- wieso denn nicht? Eco hat’s kommen sehen. Oder Bockenheim, welches sich als Bockenheim aus sich heraus setzt, wiederholt und im Spiegel seiner selbst reflektiert und darin als Bockenheim weiß? Hegel für Bockenheim. Die selbstreflexive Stadt der Postmoderne oder der endlich erbrachte Beweis von der Stadt als autopoetisches, sich selbst erhaltendes und sogar fortpflanzendes System? Luhmann in Bockenheim? Vielleicht aber auch der Beginn einer welthistorischen Rettungsaktion der versinkenden Zeugnisse des Freistaates und seiner verlassenen Stufen der Reflexion? Habermas nach Bockenheim! Oder nur ein ganz normaler Vorgang im Sanierungsprojekt, Haus hierhin, Haus dahin, Entkernen von Altbeständen, Fassadenklitterung?
Wie dem auch sei, in jedem Fall ist es irgendwie bewundernswert.
Man ist noch nicht in Bockenheim drin und weiß schon, was wirklich wichtig ist oder war, und ahnt zumindest, worauf man sich einläßt. So ähnlich wie in Ägypten, wo die Pyramiden ja auch außerhalb aufgestellt worden sind. Weswegen sie drinnen jetzt fehlen. Nein, nicht vergleichbar? Hat mich aber trotzdem dran erinnert.
Annäherungen III: Die Uni
Ich bin in Frankfurt fast zwanzig Jahre alt geworden, täglich durch die ganze Stadt hin und her und kreuz und quer zur Schule gefahren und nie, jedenfalls nie bewußt, an der Uni vorbeigekommen. Gewiß, die Saurier im Senckenberg, die kannte man, auch die Anakonda, die sich lange vor Asterix an einem Wildschwein verschluckt. Aber Uni? Die gab’s wohl, das schon. Aber sie lag irgendwo, versteckt zwischen Fabrikgebäuden und Stellflächen, ein Teil dieses fahrplanlosen Gewürfels im Niemandsland zwischen den fünfgeschossigen, kleinbürgerlichen Mietshäusern des auslaufenden Bockenheim und dem Alleenring.
Die Uni machte sich so gesichtslos, fast unsichtbar, als sei Geist etwas, was man hat, aber nicht zeigt. Das wenige was sich hätte zum Vorzeigen eignen können, die Fassade des Hauptgebäudes etwa, wurde während meines Studiums in den sechziger Jahren konsequent zugebaut. Eine Stadt, die so mit ihrer Uni umgeht, bringt natürlich auch das nicht hervor, was heute überall drangeklebt wird: die zugehörige Kultur. Studenten, gar Studentenviertel, sucht man in Frankfurt vergebens. Bockenheim jedenfalls hat sich stets geweigert, diese Rolle zu übernehmen und seine eigene Geschichte zugunsten der eines Frankfurter Studentendorfes einzutauschen. Nicht, daß es dazu zu geistlos gewesen wäre, eher im Gegenteil. Aber wenn die Frankfurter schon nicht wissen, ob sie eine Uni haben, werden sich die Bockenheimer doch nicht einfallen lassen, darauf die Antwort zu geben …
Vom Geiste her, der da weht, war Bockenheim also keineswegs dazu prädestiniert, ins Ensemble des großen Weltkonzerts aufgenommen zu werden, das immer wieder die Neuen Zeiten uraufführt. Daß der Freistaat hier seine notorisch-fröhliche Urständ feiern sollte, war dennoch kein Zufall. Das hing mit dem Gemisch zusammen. Entscheidend war, was alles hier zusammenkam.
Weitere Auszüge aus dem Beitrag von Thomas Blanke demnächst an dieser Stelle.
Der Autor Thomas Blanke, geboren 1944, war Mitherausgeber und Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Kritische Justiz“. Seit 1975 Professor für Arbeitsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 2009 emeritiert. Der Text „Freistaat Bockenheim“ erschien zuerst in „Kulturstadt Frankfurt : Szenen, Institutionen, Positionen. Herausgegeben von Rainer Erd. © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1990“. Die Veröffentlichung wurde uns von Thomas Blanke freundlicherweise gestattet.